Letzte Woche war ich im Kino. Es war eines dieser alten Lichtspielhäuser, in dem die Zeit irgendwo in den frühen 1980ern stehen geblieben war. Die Plakate an den Wänden, die Möbel, der Teppich, die Uhr, die Klamotten der älteren Dame hinter der Kasse. Alles in allem ein willkommener Rückblick in vergangene Zeiten. Sogar der Geruch war wie damals – also der des Kinos, nicht der Dame.
Ich stellte mich an. Die Schlange zur Kasse war nicht lang, dennoch dauerte es, bis ich an der Reihe war – die älteren Damen vor und hinter dem Schalter wollten offenbar gerade jetzt die Langsamkeit der Dinge für sich entdecken. Endlich, ich war dran. Noch bevor ich Hallo sagen konnte, raunte die Kassiererin ohne mich anzusehen: „Zweimal?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nur einmal.“
Die Dame blickte auf ihren Bildschirm, kniff die Augen zusammen und fuhr mit der Maus völlig unkontrolliert über den Tresen hin und her. Währenddessen murmelte sie etwas vor sich hin. Verstanden habe ich nichts … war zu undeutlich. Nach mehreren Kilometern Wegstrecke, die die arme Maus - also die Computermaus, nicht die Dame an der Kasse - zurückgelegt haben musste, kam endlich ein Ticket aus dem Drucker. Hatte ich sie aus dem Konzept gebracht, weil ich alleine ins Kino wollte oder warum dauerte das ...?
Sie riss mich aus meinen Gedanken. „Acht fünfzig. Freie Platzwahl.“
„Danke“ antwortete ich, zahlte, nahm mein Ticket und ging in den Saal, ohne weiter über ihre Worte nachzudenken.
Da stand ich nun und konnte mich nicht entscheiden, wo ich sitzen wollte. Freie Platzwahl. Die Aussage der Kassiererin stand im krassen Widerspruch mit der Situation hier vor Ort. Etwa die Hälfte der Plätze war bereits besetzt. Wie frei konnte meine Wahl unter diesen Umständen tatsächlich sein? Okay, ich war spät dran, nicht jedoch zu spät. An den Rändern der Reihen waren reichlich Kinostühle unbesetzt, doch von der allumfassende freie Wahl, die man mir versichert hatte, konnte keine Rede sein.
Das Licht ging aus, der Vorhang auf. Die Werbung begann. Stand meine freie Platzwahl etwa in Konflikt mit dem Zeitpunkt meiner Ankunft? Mit jedem vor mir eingetroffenen Gast reduzierte sich meine Wahl logischerweise. In diesem Fall war sie bereits halbiert. Warum also hatte die ältere Dame mir dieses Angebot überhaupt gemacht, wenn sie es unmöglich erfüllen konnte. Sie hätte wissen müssen, dass eine gewisse Menge an Sitzplätzen belegt sein würde, als ich den Saal betrat. Schließlich hatte sie den Gästen vor mir ja bereits Tickets verkauft.
Jedoch muss ich ihr zugutehalten: Sie konnte nicht ahnen, wer sich wann wohin setzen würde. Die Gäste vor mir hätten noch andere Dinge erledigen können – zum Beispiel Popcorn kaufen oder aufs Klo gehen. Obwohl? Die ältere Dame hätte aus Erfahrung wissen müssen, dass bereits mit dem allerersten Gast der Zustand der Unerfüllbarkeit ihrer Aussage mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten würde. Die meisten Kinogänger erwerben sich gar keinen Mundvorrat mehr, und Schlangen vor den Toiletten bilden sich eher erst nach der Vorstellung. Ich musste annehmen, sie handelte aus unlauteren Motiven. Popcorn hin, Klo her. Ihr Versprechen war nicht aufrichtig.
Oder handelt es sich bei der freien Wahl ohnehin um eines dieser verflixten Paradoxien? Über die tiefer Bedeutung jetzt nachzudenken, wäre zu aufwendig, denn Paradoxien tauchen einfach auf und wenn sie mal da sind, sind sie einfach da – unauflösbar. Womöglich hatte die Dame schlicht gemeint, ich könnte unter den übrigen Plätzen frei wählen. Somit träfe sie keine Schuld, genau so wenig wie für ein eventuell entstandenes Paradoxon.
Der Kassiererin war die grundsätzliche Situation im Saal vermutlich denkbar egal; genauso wie meine vollumfängliche Wahlfreiheit. Vermutlich leiert sie, wie seit Beginn der 1980er-Jahre den immer gleichen Text runter, ohne jemals darüber reflektiert zu haben.
Die Werbung war zu Ende, das Licht ging an, der Vorhang fuhr zu. Aus den Lautsprechern dudelte leise die Pausenmusik vor sich hin. Und ich stand immer noch am selben Fleck – war keinen Schritt weiter. Ich fühlte mich unfrei.
Hinten, durch das kleine Projektionsfenster konnte ich in den Vorführraum sehen. Eine Gestalt machte irgendetwas, bückte sich, stand wieder auf. Gewiss: ihre Aussage war falsch! Was, wenn ich genau da sitzen wollte, wo bereits jemand saß? Dürfte ich ihn von seinem Sitz vertreiben? Schließlich wurde mir - wenn auch nur mündlich - freie Platzwahl zugesichert.
Selbstredend würde ich so etwas nie tun, schließlich respektiere ich die freie Wahl der anderen; was wiederum meine massiv einschränkte. Die Situation gefiel mir nicht, genauso wenig wie die Vorstellung, immer als Erster irgendwo sein zu müssen, um das größte Stück vom Kuchen abzubekommen.
Das Licht dimmte langsam wieder runter, der Vorhang fuhr auf und der Film begann. „Meine Güte, setz dich irgendwo hin!“ dachte ich mir. Nur wo? Nicht frei nach meinem Willen entscheiden zu dürfen, löste ein Unbehagen in mir aus.
Freier Wille. Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Das ist ja voll anstrengend. Manchmal möchte ich in vorgegebenen, ja vorherbestimmten Strukturen leben. Alles wäre schön simpel: lediglich das tun, was mir gesagt wird, ohne darüber nachzudenken. Mein Leben könnte so einfach sein ohne die verflixte Wahlfreiheit, ohne die vielen Gedanken.
Ja, in so einer Welt würde ich schon längst irgendwo sitzen und könnte den Film genießen. In so einer Welt wäre alles klar strukturiert, weil alles vorherbestimmt wäre; folglich auch mein Platz. Wer das entscheidet, wäre mir im Endeffekt egal, denn in zwei Stunden, wenn der Film vorbei ist, werde ich ohnehin von meinem Kinosessel aufgestanden sein, und die freie Platzwahl wird mich nicht mehr interessieren.
Warum also spielt es im Hier und Jetzt eine Rolle? Freie Wahl – ist sie den ganzen Aufwand wirklich wert? Zu viel Denken macht unglücklich … Jetzt wird es langsam abstrus.
In so einer Weltordnung wollte ich nicht leben. Da könnte ich ja gleich wieder an einen Gott glauben, der meinenLebensweg bereits vorgezeichnet hat. Ich will für mein Leben schon selbst verantwortlich sein. Obwohl … irgendwie hat dieser Gedanke etwas Verführerisches.
Scheiße! Ich wollte nur ´nen Film anschauen, aber meine Gedanken hatten andere Pläne. Sie hielten mich ab, weil sie sich mal wieder verrannt haben. Mein Gott, jetzt setz dich doch irgendwo hin! Am besten dorthin, wo noch Platz ist. So schwer kann das doch nicht sein.
Stop! Gedanken auf Start. Konzentriere dich auf das Wesentliche, triff eine einfache Wahl. Jetzt!
Witzig … ist „freie Platzwahl“ nicht eigentlich ein Pleonasmus? Eine Wahl sollte eine Wahl – zumindest in Demokratien – doch stets Grundlage freier Entscheidung sein. Bitte, bitte nicht noch mehr Gedanken! Einfach hinsetzen.
Der Film lief bereits seit ein paar Minuten, und ich wusste immer noch nicht wohin ich mich setzen sollte. Die anderen Gäste hatten mich meiner Wahlmöglichkeiten beraubt, nur weil sie vor mir da waren. Oder war doch die Dame an der Kasse mit ihrem unerfüllbaren Versprechen unschuldig? Vielleicht war es die Schuld dieses Paradoxons. Eine freie Wahl gab es schlicht nicht. Vielleicht bin ich auch zu pedantisch, aber richtig fühlte sich das nicht an.
Das durfte doch nicht wahr sein … noch mehr Gedanken … Jetzt setz dich endlich hin!
Zu spät! Meine Gehirn lief auf Hochtouren, es gab keine Ruh. In diesem Zustand wäre es mir eh nicht möglich gewesen, mich auf äußere Einflüsse - in diesem Fall der Film - zu konzentrieren.
Und so ploppte ein weiterer Gedanke auf: Letzthin hatte ein Neurowissenschaftler in irgendeinem Experiment nachgewiesen, dass irgendein spezieller Teil des Gehirns bereits eine Entscheidung getroffen haben soll, bevor es einem selbst bewusst wird. Keine Ahnung, wie das genau funktionieren soll? Aber Millisekunden, bevor wir Menschen meinen, uns frei entschlossen zu haben, hat unser Gehirn in Wahrheit die Entscheidung längst gefällt. Behauptete er in seiner These zumindest.
Offenbar traf das auf mich nicht zu. Ich stand fast dreihunderttausend Millisekunden lang am selben Fleck, und dieser spezielle Teil meines Gehirns hatte nichts entschieden. Oder es mir nicht mitgeteilt. Um sicherzugehen, wartete ich weitere zweihundert Millisekunden ab. Nichts. Keine Entscheidung.
Jetzt hatte ich vor lauter Grübelei den Anfang verpasst. Ich war genervt und setzte mich an den Rand – wo ich eh am liebsten sitze. Hmmm … die Wahl war wohl doch irgendwie vorherbestimmt. Ist mir jetzt auch egal; ich will den Film sehen. Das zumindest hatte ich ja frei entschieden.
Frei Platzwahl. Was ein Scheiß! Das ist ja wie in der Politik: Egal was ich wähle, am Ende sitze ich am Rand. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich dort sogar lieber sitze. Nein! Es geht um so viel mehr: meine freie Wahl.